SPIEGEL-Serie über Wende und Ende des SED-Staates (12) Die Woche vom 9. 12. 1989 bis zum 17. 12. 1989Vom Tigerkäfig in den Wunderbus
Geldmaschine Knast: Die DDR verdiente Milliarden durch Zwangsarbeit und Häftlingsverkauf
Von Sebastian Knauer
• aus DER SPIEGEL 51/1999
Vor dem Haupteingang der Haftanstalt Bautzen II stand eine große Propaganda-Tafel: »Das Wort der Partei wird eingelöst. Für jeden lohnt es sich, sein Bestes zu geben!« – realsozialistischer Zynismus.
Der mächtige neoklassizistische Bau an der seinerzeitigen Siegfried-Rädel-Straße, mitten in einem Wohngebiet, war die meistgefürchtete Haftanstalt der DDR; sie stand unter besonderer Obhut des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Nachts angelieferten Regimegegnern wurde zur Begrüßung mitgeteilt: »Von jetzt an sind Sie von der Bildfläche verschwunden.«
»Mielkes Privatgefängnis« („FAZ“) war auf dem Klingelschild als »Volkspolizeikreisamt« und »Staatsanwaltschaft« ausgewiesen. Im Innern teilte eine meterdicke Mauer, über fünf Stockwerke hoch, die Trakte für Vernehmung und Vollzug. Nur eine mächtige Stahltür führte »ins Vergessen« – zu den Vernehmungsräumen der Staatssicherheit und ins Gefängnis. »Schweigelager«, sagten die Insassen.
Bautzen II war deutsche Perfektion in Sachen Unterdrückung. In der Provinzstadt, 50 Kilometer nordöstlich von Dresden, zeigte das MfS, wie sich die Persönlichkeit von Regimegegnern brechen lässt – ganz ohne Folter oder brutale Schläge.
»Tigerkäfige« oder »Bunker« nannten die Gefangenen die 2,50 mal 1,50 Meter großen Zellen. In der »verschärften Haft« landeten Gefangene wegen unerlaubter Verbindungsaufnahme ( in Absonderungszellen und nicht in Tigerkäfigen als Sicherungsmaßnahme* ), schwerer Verstöße gegen das Anstaltsregiment, Arbeitsverweigerung oder Tätlichkeiten gegenüber anderen Mitgefangenen.
Nach DDR-Recht durfte die Isolation im ( Arrest mit Tigerkäfig* ) Kerker nur 21 Tage dauern. In Bautzen ( in allen Zuchthäusern der DDR * ) beugten die Aufseher das Recht, indem sie die Gefangenen für einen Tag herausholten, um sie dann wieder wegzusperren.
Einstigen Häftlingen ist das Grauen noch immer gegenwärtig: Die Zellenfenster sind bis auf einen kleinen Luftschlitz zugemauert. In dem unbeheizten, feuchten Raum gibt es weder Hocker noch Tisch oder Pritsche. Eine 40-Watt-Birne an der Decke leuchtet nur jede halbe Stunde – zum Kontrollgang der Aufseher.
Zweimal am Tag wird ein Notdurft-Kübel in den Raum gestellt, zum Waschen morgens eine Schüssel Wasser. Unter Aufsicht darf der Arrestant sich einmal die Woche rasieren, Nagelfeile und Kamm sind verboten.
Zum Schlafen wird eine Holzpritsche mit einer dünnen Decke in die Arrestzelle geschoben. Die Tagesverpflegung besteht aus fünf dünnen Brotscheiben ohne Aufstrich und einem Topf Malzkaffee. Eine warme, wässerige Suppe gibt es nur alle 72 Stunden.
Im Tigerkäfig sind Sprechen, Singen oder Pfeifen verboten, ebenso Lesen und Schreiben. Die Zeit in der totalen Isolation überstanden Häftlinge wie der Schriftsteller Siegmar Faust, der insgesamt 401 Tage im Bunker der Haftanstalt Cottbus verbrachte, mit eigenartigen Gedanken: »Ich stellte mir ein Menü zusammen, das ich in einem Lokal essen würde, wenn ich frei bin.«
Ihre umgrenzte Freiheit konnten die DDR-Bürger schnell verlieren. Zwar verstand sich der Unrechtsstaat seit seiner Gründung als »sozialistischer Rechtsstaat« (SED-Parteiideologe Kurt Hager). Artikel 126 regelte, dass die ordentliche Gerichtsbarkeit »durch den Obersten Gerichtshof der Republik und durch die Gerichte der Länder« auszuüben sei.
Per Rundverfügung Nr. 125/51 aber suchte das Justizministerium bereits im Jahre 1951 den Begriff »politischer Gefangener«, wie ihn später die DDR-Betreuungsgruppen von Amnesty International verwendeten, schlicht zu verbieten:
Wer unsere antifaschistisch-demokratische Ordnung angreift, wer den Aufbau unserer Friedenswirtschaft stört, begeht eine strafbare Handlung und wird seiner verbrecherischen Taten wegen bestraft. Die Strafgefangenen dieser Art sind deshalb auch keine »politischen Gefangenen«, sondern kriminelle Verbrecher. Die Bezeichnung dieser Strafgefangenen als politische Häftlinge wird daher hiermit untersagt.
Ein Jahr später, 1952, trat ein Staatsanwaltschafts- und ein Gerichtsverfassungsgesetz in Kraft, das es dem Obersten Gerichtshof erlaubte, Strafsachen von »überragender Bedeutung« im Sinne der Einheitspartei zu korrigieren.
Vor allem die ehemalige Vizepräsidentin des Obersten Gerichts und spätere Justizministerin Hilde Benjamin sowie der Generalstaatsanwalt Ernst Melsheimer sorgten in den fünfziger Jahren für die Stalinisierung der DDR-Justiz. »Seitdem verfügte die Führung der SED über einen mit weithin zuverlässigen und beliebig manipulierbaren Kadern besetzten Justizapparat«, urteilt der DDR-Experte Karl Wilhelm Fricke.
Laut Fachautor Fricke („Strafjustiz im Parteiauftrag“) kam es in 40 Jahren DDR zu rund 200 000 politischen Strafverfahren mit Verurteilungen. Jedes Jahr seien »einige tausend Menschen« in die Strafvollzugs- und Untersuchungshaftanstalten zwischen Prora und Plauen gewandert.
Das DDR-Strafgesetzbuch gab dazu einiges her:
* »Staatsfeindliche Hetze«, Gefängnis von zwei bis zehn Jahren, konnte jede abweichende Meinungsäußerung sein, die als »Diskriminierung der gesellschaftlichen Verhältnisse« galt. Die Verteilung eines Flugblattes gegen den Wehrkundeunterricht etwa trug einem 21-Jährigen zwei Jahre und zwei Monate ein.
* »Landesverräterische Nachrichtenübermittlung«, Mindeststrafe ein Jahr, traf sogar Wissenschaftler, die ihre Texte im Westen drucken ließen. Der Philosoph Rudolf Bahro („Die Alternative“) etwa bekam acht Jahre Haft.
* »Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit« bildete die Grundlage für verschärften Zugriff. So verhängte ein Gericht gegen einen 40jährigen Ingenieur aus Karl-Marx-Stadt ein Jahr und vier Monate Haft, Führerscheinentzug und Einziehung des Autos. Er hatte auf die Scheibe und den Kofferraumdeckel seines Trabant Texte montiert: »Anspruch und Wirklichkeit – 40 Jahre Uno-Menschenrechte«.
Im Schnitt haben die 1200 Richter des Landes alljährlich etwa 220 000 Urteile jeder Art gesprochen. Mindestens 160 Menschen wurden aus politischen Gründen zum Tode verurteilt. 94 dieser Urteile ergingen wegen NS-Gewaltverbrechen, 66 wegen so genannter Staatsverbrechen wie Spionage, Sabotage, Verrat oder Teilnahme am Aufstand vom 17. Juni 1953.
Von 1972 bis 1981 wurden in der DDR noch mindestens 12 Menschen durch »unerwarteten Nahschuss in den Hinterkopf« hingerichtet. Die Toten erhielten kein Grab. Die meisten wurden im Leipziger Südfriedhof verbrannt. Ihre Asche wurde mit Bausand gemischt und vermauert.
Der Blutkrebs-Tod dreier einstiger Stasi-Häftlinge – der Dissidenten Jürgen Fuchs, Rudolf Bahro und Gerulf Pannach – und die Entdeckung eines getarnten Röntgengeräts im Fotoraum des Stasi-Kerkers von Gera weckten nach der Wende einen »dringenden Verdacht“: dass gegen »politische Häftlinge gezielt Röntgenstrahlung eingesetzt wurde«, wie 200 einstige DDR-Bürgerrechtler in einem Aufruf formulierten (SPIEGEL 20/1999).
Offiziell diente die Haft der »Erziehung durch gesellschaftlich nützliche Arbeit«, wie es im DDR-Strafvollzugsgesetz hieß. Fast jede Haftanstalt beherbergte Zweigwerke der großen Volkseigenen Betriebe oder entsandte Gefangene in Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften.
In Cottbus zum Beispiel wurden vor allem Pentacon-Kameras montiert, die gegen harte Devisen in den Westen gingen. Für die knifflige Arbeit setzte die Gefängnisleitung besonders gern Ärzte ein, die gut mit der Pinzette umgehen können.
In Bautzen fertigten die politischen Gefangenen Elektroschaltgeräte für den VEB Oppach. In Berlin-Rummelsburg mussten ausgerechnet DDR-Kritiker SED-Medaillen und Staatsorden pressen. Im Frauengefängnis Berlin-Köpenick wurde Wäsche für die Volksarmee und die sowjetischen Streitkräfte gewaschen. Die inhaftierte Regimegegnerin Bärbel Grübel erfuhr, dass auch die Wäsche von Erich Honecker darunter war. Die Fuhre zum »Haus an der Spree« wurde in der Waschabteilung des Knasts immer besonders geheimnisvoll behandelt.
Anfang der sechziger Jahre begann das Geschäft mit dem Freikauf von politischen Gefangenen durch die Bonner Regierung. Im Hintergrund wirkte der Verleger Axel Springer an einer ersten Entlassungsaktion zu Gunsten von 800 DDR-Häftlingen mit. Mit 100 000 Mark im Aktenkoffer reiste 1963 schließlich Ludwig Rehlinger, Büroleiter des Gesamtdeutschen Ministers Rainer Barzel, hochkonspirativ nach Ost-Berlin.
Ein Jahr später, im August 1964, kamen die ersten Häftlinge in drei Bussen aus der Haftanstalt Berlin-Rummelsburg über den Grenzübergang Herleshausen in den Westen. Das deutsch-deutsche Geheimkommando lief unter der Bezeichnung »Kirchengeschäft B«; als Vermittler waren das evangelische Diakonische Werk und die katholische Kirche tätig.
Insgesamt 34 000 Häftlinge sind zwischen 1964 und 1989 aus der DDR freigekauft worden, nach offiziellen Angaben für rund 3,4 Milliarden Mark. Nach Auswertung von Geheimprotokollen und Aussagen des ehemaligen Devisenbeschaffers Alexander Schalck-Golodkowski sind in Wahrheit »ca. acht Milliarden DM« geflossen.
Das Kopfgeld lag anfangs bei 40 000 Mark, zuletzt betrug es 95 847 Mark. Die Gelder landeten auf MfS-Konten, später flossen sie in Schalck-Golodkowskis Devisenreserve oder auf Honeckers »Generalsekretärskonto« Nummer 0628 bei der Deutschen Handelsbank in Ost-Berlin.
Der Kauf von Apfelsinen oder Südfrüchten aus dem vorgeblich humanitären Handel blieb die Ausnahme. »Wir hießen damals die Apfelsinenjungs«, erinnert sich der Ost-Berliner Anwalt Wolfgang Vogel, der zusammen mit seinem West-Berliner Kollegen Jürgen Stange die meisten Freikäufe betreute.
Der hessische Busunternehmer Arthur Reichert holte im Auftrag Bonns die jeweils freigekauften Gefangenen im Entlassungsknast Karl-Marx-Stadt ab. Reichert hatte seine Reisebusse eigens für das Geheimkommando präpariert: Über einen Knopf am Armaturenbrett konnte er die Nummernschilder drehen. Aus dem Ost-Berliner Kennzeichen IA-48-32 wurde die Westnummer HU-X 3. Nicht einmal der TÜV in Hanau wusste von den Umbauten.
Bei den DDR-Häftlingen hatten die blau-weiß gestrichenen Fahrzeuge einen besonderen Namen: »Wunderbusse«.
SEBASTIAN KNAUER
ENDE
* Mit dem Bürgerrechtler Jörn Mothes.
seit 2017 Vorsitzender des Beirats der verbrüderten Geheimdienste der BStU
1962 als Sohn des Arztes Winrich Mothes in Stralsund geboren, legte Jörn Mothes in Schwerin sein Abitur ab. Seit 1978 arbeitete er in der evangelischen Jugendarbeit in Schwerin und wirkte in mehreren Friedens- und Ökologiegruppen in Mecklenburg und Thüringen mit. Da ihm das Biologiestudium verwehrt wurde, absolvierte er zunächst eine Lehre zum Tischler. Zwischen 1983 und 1986 studierte er zunächst in Rostock, von 1986 bis 1989 in Jena Theologie. Dort wirkte er in Arbeitskreisen zu ökologischen und entwicklungspolitischen Themen mit. 1989 wurde er zum Vikar der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs ernannt. Kurz vor der Wende ging er als Entwicklungshelfer nach Nicaragua.[1] Angesichts der politischen Entwicklungen kehrte er jedoch in die DDR zurück und trat 1989 dem Neuen Forum sowie dem Bürgerkomitee zur Auflösung der Staatssicherheit in Gera und Jena bei. Für die Opposition saß er mit am Runden Tisch der Volkskammer.[2]
1993 wechselte er zum Landesbeauftragten für die Stasiunterlagen nach Schwerin und wurde dessen Stellvertreter. 1998 übernahm er seinen Posten und war bis 2008 als Stasiunterlagen-Beauftragter in Mecklenburg-Vorpommern tätig. Eine Wiederwahl war nach Ablauf zweier Amtszeiten nicht möglich. Seit September 2008 ist er Referatsleiter im Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern.[3] Die Fraktionen von SPD und CDU im Brandenburgischen Landtag haben 2009 erwogen, Mothes zum ersten brandenburgischen Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen zu wählen. Dies wurde dann jedoch Ulrike Poppe.
Seit November 2017 ist er als Nachfolger von Richard Schröder Vorsitzender des Beirates beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen.[4]
Jörn Mothes ist verheiratet und hat vier Kinder.[5]