
Deutschland´s Opfer der SED Diktatur und der Wiedervereinigung wurden Opfer der 30 Jahre dauernden Reviktimisierung.
Die AfD ist gerade in Ostdeutschland eine sehr starke Kraft geworden – siehe die drei Landtagswahlen. Sie verweist damit auch auf die Gräben zwischen Deutschland Ost und West: Viele Soziologen sagen, die Menschen in Ostdeutschland fühlten sich abgehängt und diskriminiert, sie hätten Angst vor der Globalisierung. Genau das sei der Nährboden für einen neuen Nationalismus und für Fremdenfeindlichkeit.
Professor Klaus Schroeder, Politikwissenschaftler an der FU Berlin, beschreibt diese Gräben anhand neuen empirischen Materials.
Klaus Schroeder:
Nahezu allen Menschen in Ost- und Westdeutschland geht es materiell gut und dennoch wächst insbesondere im Osten die Unzufriedenheit mit dem politischen und gesellschaft-lichen System, wie gerade die Landtagswahl in Thüringen gezeigt hat.
Eine sehr breite Mehrheit gleichermaßen in Ost und West ist mit der eigenen materiellen Situation eher oder sehr zufrieden. Die Arbeitslosigkeit erreicht in den neuen Ländern mit 6,7 % inzwischen fast westdeutsches Niveau. Und doch: Nicht einmal die Hälfte äußert sich zufrieden über die praktizierte Demokratie und nur etwa ein Drittel hat eine gute Meinung über die soziale Marktwirtschaft. Die DDR wird dagegen umso positiver gesehen, je länger ihr Untergang zurückliegt. Diese Ambivalenzen lassen sich nur verstehen, wenn man die Nachwirkungen des Lebens in einem geteilten Land und die Voraussetzungen und Folgen der Wiedervereinigung gleicher-maßen in den Blick nimmt.
Die DDR war zwar nicht bankrott, aber ihre Wirtschaft in einem desaströsen Zustand. Kurz vor dem Mauerfall, am 27. Oktober 1989, benannte Generalleutnant Kleine, bei der Stasi zuständig für die politisch-operative Sicherung der Volkswirtschaft, die wichtigsten Themenfelder, wie eine starke sozialistische DDR die Schwelle zum nächsten Jahrtausend überschreiten könne. Diese seien der Außenhandel, der 50 % des Nationaleinkommens realisiere, die Aufrechterhaltung der Kreditwürdigkeit und der Zahlungsfähigkeit, der für die Modernisierung notwendige Investitionsbedarf in Höhe von zwei jährlichen National-einkommen sowie die Beseitigung der ungenügenden Arbeitsbereitschaft vieler Werktätiger. Der Bundesregierung warf er vor, die DDR ökonomisch und politisch desta-bilisieren zu wollen.
Zu einer ähnlichen Einschätzung wie Kleine gelangte die AG Zahlungsbilanz unter Leitung von Gerhard Schürer. In einem dem Politbüro vorgelegten Papier forderte sie eine „grund-sätzliche Änderung der Wirtschaftspolitik der DDR, verbunden mit einer Wirtschaftsre-form“. Als kurzfristigen Ausweg aus der wirtschaftlichen Misere sah sie nur die Gewähr-ung von Finanzkrediten seitens der Bundesrepublik in Höhe von 2 bis 3 Milliarden Valuta-Mark über die bisherige Kreditlinie hinaus.
Ein entsprechender Modernisierungspfad wäre mit einem massiven Sozialabbau und einer erheblichen Senkung des Lebensstandards einhergegangen. Dieses Szenario blieb den DDR-Bürgern erspart, da der Fall der Mauer knapp zwei Wochen später das Ende des SED-Staates einleitete.
Bis zum Schluss blieb der Alltag in der DDR von Materialknappheit und Versorgungs-mängeln geprägt. Die zentralistische Planwirtschaft war im wahrsten Sinne des Wortes eine Mangelwirtschaft. Folge der jahrzehntelangen sozialistischen Diktatur mit ihrer zentralistischen Planwirtschaft waren neben der produktivitätsschwachen Mangelwirt-schaft eine marode Infrastruktur, eine gigantische Umweltzerstörung und politisch entmündigte Menschen. Die Wirtschaftskraft lag nach über vier Jahrzehnten Sozia-lismus bei etwa 33% und die Produktivität bei allenfalls 27% des westdeutschen Niveaus.
Während Materialknappheit immer wieder zu Ausfällen und Wartezeiten in der Produk-tion führte, beeinträchtigte die schlechte Versorgung mit Konsumgütern den Lebensalltag der Menschen nachhaltig. Engpässe gab es nicht nur bei Südfrüchten und hochwertigen Importgütern, sondern ebenso bei für den Alltag unverzichtbaren Produkten. Diese Reali-tät haben viele Ostdeutsche offenbar vergessen, denn nur etwa die Hälfte gibt an, der eigene Lebensstandard habe sich seit der Wiedervereinigung verbessert.
Günter Mittag, seit den 1960er-Jahren in maßgeblichen Funktionen für die Wirtschaft zuständig, fasste in einem Spiegel-Interview knapp ein Jahr nach der Wiedervereinigung die wirtschaftliche Situation in der Endphase der DDR mit drastischen Worten zusam-men: „Man denke nur, angesichts der schwierigen Lage in der Sowjetunion, was heute hier los wäre, wenn es die DDR noch gäbe. Unbeschreiblich. Da läuft es mir heiß und kalt über den Rücken. Mord und Totschlag, Elend, Hunger. Es reißt mir das Herz kaputt. Mein Wunsch ist, Vertrauen in die Zukunft zu schaffen. Das ist wichtig. Jeder Mensch braucht Zuversicht, braucht etwas, woran er sich festhalten kann.“ Das knappe Fazit des für den Absturz der Wirtschaft obersten Verantwortlichen lautete: „Das sozialistische System ins-gesamt war falsch.“
Das Ende der DDR Der sich seit den 1980er Jahren abzeichnende Niedergang der DDR mündete schließlich im Sommer 1989 in einen Todeskampf. Außenpolitisch war die DDR nach dem Amtsantritt von Gorbatschow und den Reformbestrebungen in einigen der so genannten sozialistischen Bruderstaaten weitgehend isoliert, was der SED-Führung offen-bar nicht hinreichend bewusst war. Innenpolitisch sah sich die SED mit einer sich formie-renden Opposition und einer Fluchtbewegung konfrontiert.
Das Gesamtpotenzial der Opposition war klein. Es lag nach den Beobachtungen des Ministeriums für Staatssicherheit bei ca. 2.500 Personen. Das MfS stufte ca. 60 Personen als fanatische, von politischer Profilierungssucht getriebene, unbelehrbare Feinde des Sozialismus ein. Die Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen erreichte erst im Frühsommer 1989 immer größere Kreise der Bevölkerung.
Die zahlenmäßig stärkste Gruppe der Bürgerbewegung, das „Neue Forum“, verstand sich nicht als Partei, ja nicht einmal als eine ideologisch oder programmatisch strukturierte Vereinigung, sondern zunächst nur als organisatorische Basis für eine innergesellschaft-liche Diskussion und forderte die SED zum Dialog auf. Seine programmatischen Aussagen blieben wie die anderer Oppositionsgruppen weitgehend allgemein und konzentrierten sich zumeist auf einen reformierten und demokratischen Sozialismus. Einigkeit herrschte unter den verschiedenen Gruppen nur in Bezug auf die angestrebte Abschaffung des SED-Machtmonopols.
Die von ihnen initiierten Demonstrationen richteten sich gegen die bisherige Politik der SED-Führung und standen unter dem Motto „Wir sind das Volk!“. Gegenüber den Menschen, die die DDR seit dem Sommer zu Tausenden verließen, artikulierten sie: „Wir bleiben hier!“ Die meisten Oppositionsgruppen hatten wenig oder keinen Kontakt zu den Fluchtwilligen, im Gegenteil: Sie kritisierten sie, weil diese nicht bereit waren, mit ihnen gemeinsam den Sozialismus zu reformieren, sondern lieber in den kapitalistischen Westen mit einer bürgerlichen Gesellschaft gehen wollten. Dennoch entwickelte sich die Fluchtbe-wegung zu einer Massenbewegung. Im Juli verließen etwa 12.000 Personen die DDR in Richtung Bundesrepublik, im August ca. 21.000, im September 33.000, im Oktober 57.000 und im November ca. 133.000 Menschen.
Der eher zufällig zustande gekommene und vor allem unvorbereitete von der Ost-Berliner Bevölkerung erzwungene Fall der Mauer am 9. November setzte die SED-Führung wie auch die Oppositionsgruppen unter Zugzwang. Die Euphorie dieser Tage, die Vielfältigkeit der deutsch-deutschen Begegnungen sowie vor allem die weiter anhaltende Massenflucht und die gravierenden ökonomischen Probleme ließen einen Sog entstehen, der die Lösung der „deutschen Frage“ vordringlich machte. Eine mögliche rasche deutsche Vereinigung stieß zu diesem Zeitpunkt auf strikte Ablehnung bei der SEDFührung und auch Sprecher der Opposition reagierten nach dem Mauerfall in dieser Frage zumeist zurückhaltend.
Eine breite Mehrheit der Bevölkerung wollte nicht nur die Überwindung der sozialisti-schen Diktatur und die Brechung des Machtmonopols der SED, sondern auch die schnelle Wiedervereinigung. „Deutschland einig Vaterland“ oder „Wir sind ein Volk“ hießen ab Ende November 1989 die zentralen Parolen in Leipzig und anderswo. In der „nationalen Frage“ hatten sich SED und große Teile der Opposition nun gleichermaßen von den Massen isoliert.
Die kürzlich neu aufgeflammte Diskussion, wer – Bevölkerung oder Bürgerbewegung – für das Ende der DDR ausschlaggebend war, geht am Kern vorbei, da beide Bewegungen ineinandergreifen. Die größte Oppositionsgruppe, die Flucht- und Ausreisebewegung, und die engagierten, aber zahlenmäßig begrenzten Dissidenten initiierten im Ergebnis gemeinsam eine Freiheitsrevolution und die breite Masse der Bevölkerung nach dem Fall der Mauer – eine auf die schnelle Wiedervereinigung zielende Revolution, von der sie sich nationale Einheit, Freiheit inklusive Reisefreiheit und schnellen Wohlstand erhofften.
Der Weg zur Wiedervereinigung Die schon im Sommer 1989 einsetzende Fluchtwelle nahm nach dem Fall der Mauer ungeahnte Ausmaße an. Allein zwischen November 1989 und Januar 1990 verließen knapp 200.000 DDR-Bürger ihr Land Richtung Westen. Angesichts dieser Lage unterbreitete Bundeskanzler Helmut Kohl Anfang Februar 1990 der DDR das Angebot für eine baldige Währungs- und Wirtschaftsunion. Sein Konzept zielte insbesondere auf drei Aspekte: die Eindämmung der Übersiedlung in den Westen, die Unterstützung der DDRCDU im bevorstehenden Wahlkampf und die Festschreibung der deutschen Wiedervereinigung. Allein die Ankündigung konnte die Abwanderung tatsächlich eindämmen.
Den auf Druck der ostdeutschen Seite um eine Sozialunion erweiterten Staatsvertrag bezeichnete Kohl als ein „starkes Zeichen der Solidarität unter den Deutschen“. Die sowjetische Regierung dagegen sah in einer informellen Botschaft an die Bundesregierung darin „eine rechtliche Basis für die faktische Einverleibung der DDR“.
Neben der schnellen Einführung der D-Mark in der DDR war insbesondere der gewählte Umtauschkurs von 1:1 für Löhne und Renten sowie für kleine Sparguthaben umstritten. Die Bundesbank favorisierte eine Umstellung 2:1 und ein stufenweises Vorgehen, um die Konvertibilität der DDR-Mark sukzessive zu erreichen. Die niedrige Produktivität müsse in einem entsprechend niedrigerem Lohn Ausdruck finden. Gegen dieses Argument sprach, dass ostdeutsche Durchschnittslöhne auf oder unter westdeutschem Sozialhilfeniveau zu einem erneuten Übersiedleranstieg geführt hätten. Die schnelle Einführung der D-Mark und der gewählte Umtauschkurs entsprachen zudem den Forderungen vieler Ostdeutscher, die zu Zehntausenden „Kommt die D-Mark bleiben wir, kommt sie nicht geh’n wir zu ihr!“ und „Eins zu eins, oder wir werden niemals eins!“ auf Demonstrationen skandierten. Auf diese Forderungen reagierte Kohl mit der Ankündigung und Durchsetzung eines konsumorientierten Vereinigungspfades. Über massive Geldtransfers sollten in kurzer Zeit „blühende Landschaften“ entstehen. Die wirtschaftlichen Folgen hielt die Bundesregierung offenbar für
nachrangig. Kohls Signal, die soziale Problematik und nicht die wirtschaftlichen Aspekte in den Vordergrund zu stellen, bestimmte die nachfolgenden innenpolitischen und innerdeutschen Schritte bis zur Vereinigung.
Kaltstart Der gewählte soziale Vereinigungspfad und der Umtauschkurs führten zu einem massiven Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft, insbesondere der Industrie. Die Industrieproduktion, die sich schon im Herbst 1990 gegenüber 1989 halbiert hatte, fiel bis April 1991 auf ihren tiefsten Stand, auf 30 % des Ausgangsniveaus. Erst im zweiten Halbjahr 1991 zogen Industrieproduktion und Bruttoinlandsprodukt wieder an.
Entsprechend entwickelten sich die Arbeitslosenzahlen. Sie überschritten im zweiten Halbjahr 1991 die Millionengrenze; im ersten Halbjahr 1992 betrug die Arbeitslosenquote bereits knapp 16%. Hinzu kamen über eine Million Personen in Qualifizierungsmaßnahmen und etwa 2,5 Millionen, die in den Vorruhestand geschickt wurden. Den meisten von ihnen ging es zwar finanziell nicht schlechter als zuvor, aber sie fühlten sich überflüssig, was angesichts der Sozialisation in der „Arbeitsgesellschaft“ DDR erhebliche Auswirkungen auf das Selbstbewusstsein hatte. Diese Entwicklung hat sich in das historische Gedächtnis vieler Ostdeutscher fest eingenistet und wirkt bis heute nach. Das weit verbreitete Gefühl, „Bürger zweiter Klasse“ zu sein, hat hier eine seiner Wurzeln.
Diese ökonomische und soziale Konstellation verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass die ostdeutschen Betriebe der westlichen Konkurrenz über Nacht in voller Wucht ausgesetzt wurden. Der Verzicht auf eine eigenständige Währung machte es unmöglich, gravierende systembedingte Defizite der Unternehmen bei der Produktivität und Produktqualität durch eine entsprechende Abwertung zu kompensieren. Ostprodukte mussten nun mehr als dreifach verteuert mit Westprodukten konkurrieren. Außerdem waren Importgüter entsprechend verbilligt, was die ohnehin vorhandene Präferenz der ostdeutschen Nachfrage für Westprodukte verstärkte.
Für den zwar generell erwarteten, aber in diesem Ausmaß doch für unwahrscheinlich gehaltenen Einbruch der Wirtschaft gab es weitere Ursachen. Viele DDR-Betriebe hatten nur noch „Schrottwert“; schnell steigende Löhne drückten auf Gewinne und damit auch auf Investitionen. Die staatliche Subventions- und Steuerförderpolitik setzte Schwerpunkte in der Konsum- und Baunachfrage und vernachlässigte den industriellen Sektor.
Der wirtschaftliche Angleichungsprozess 29 Jahre später liegt das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner im Osten bei etwa 75% des westdeutschen Niveaus, die Produktivität pro Arbeitsstunde bei rund. 80%. Das ist zwar ein deutlicher Anstieg, der aber die (zu) hoch gesteckten Erwartungen nicht erfüllt. Schon seit geraumer Zeit stockt der Angleichungsprozess, die Wachstumsraten der Wirtschaft verlaufen parallel;
Ostdeutschland holt seit Ende der 1990er-Jahre kaum noch auf. Allerdings entwickelten sich auch die ostdeutschen Regionen auseinander. Prosperierende Regionen erreichen inzwischen das untere westdeutsche Niveau, schwächere rutschen weiter ab. Dennoch fallen weiterhin die regionalen Differenzen deutlich niedriger aus als im Westen. Der ärmste ostdeutsche Landkreis erreicht beim durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommen etwa 85% des reichsten, in Westdeutschland dagegen nur 69%, d.h. die Wohlstandsschere klafft im Westen deutlich stärker auseinander als im Osten. Diskussionen hierüber gibt es jedoch nicht. Westdeutsche akzeptieren diese Differenz weitgehend, weil sie sich im Laufe der Jahrzehnte an unterschiedliche regionale Entwicklungen gewöhnt haben. Ostdeutsche, aufgewachsen in einem zentralstaatlichen System, denken hingegen weiterhin, alles müsse überall gleich sein. Die ärmsten Landkreise und kreisfreien Städte liegen zudem mit Gelsenkirchen und Duisburg inzwischen in Nordrhein-Westfalen. An der Spitze des Wohlstandes stehen freilich weiterhin ebenfalls westdeutsche Landkreise und Städte.
Durch den von der Bundesregierung eingeschlagenen sozialen und konsumorientierten Vereinigungspfad, der zwangsläufig gewaltige finanzielle Transfers von West nach Ost voraussetzte, vollzogen sich unmittelbar nach der Vereinigung materielle und soziale Angleichungsprozesse in atemberaubender Geschwindigkeit, denen es aber am wirtschaftlichen Fundament mangelte. Schon Mitte der 1990er Jahre lebten etwa drei Viertel der Deutschen in Ost und West unter fast gleichen materiellen Bedingungen. Danach verlangsamte sich die materielle Annäherung der Haushalte, um nach der Jahrtausendwende zu stagnieren.
Unter Berücksichtigung fortbestehender regionaler Kaufkraftunterschiede, die in der Diskussion über die vermeintliche Schlechterstellung ostdeutscher Haushalte selten erwähnt werden, erreichen die ostdeutschen Haushaltseinkommen inzwischen im Durchschnitt knapp 94% des Westniveaus. Noch bestehende und nur langfristig abschmelzende Unterschiede existieren aufgrund der jahrzehntelangen gegensätzlichen Gesellschaftssysteme insbesondere in der Verteilung des Vermögens und der hieraus resultierenden Einkommen. Aber selbst auf diesem Feld lässt sich eine erstaunliche relative Verbesserung für ostdeutsche Haushalte konstatieren: Ihre durchschnittlichen Geldvermögen stiegen in den vergangenen 29 Jahren von etwa einem Fünftel auf über 60% des westdeutschen Niveaus. Werden die kapitalisierten Besitzansprüche an die gesetzlichen Rentenversicherungen einbezogen, erreichen Ostdeutsche je nach Alter und Geschlecht sogar etwa 70% bis 80% des westdeutschen Niveaus. Größer geworden ist der Unterschied bei den Immobilienvermögen, deren Wert im Westen in den letzten Jahren deutlicher als im Osten gestiegen ist.
Der Preis der Einheit Die Transformation einer zentral geleiteten Planwirtschaft in eine soziale Marktwirtschaft erforderte enorme Transfergelder. Schon 1990 überwies die
Bundesrepublik mindestens 60 Millarden D-Mark in die DDR und die neuen Länder, damit Löhne und Renten bezahlt werden konnten. In den Jahren danach stiegen die Bruttotransferzahlungen deutlich an, erreichten zur Jahrtausendwende die Grenze von jährlich 100 Mrd. Euro und liegen derzeit bei etwa 80 Millarden. Euro. Nach Schätzungen flossen zwischen 1990 und Ende 2018 etwa 2,0 bis 2,5 Billionen Euro in die neuen Länder. Neben Sonderzahlungen zum so genannten Aufbau Ost, die etwa 300 Millarden. Euro ausmachen, resultieren die Transfers vor allem aus dem Länderfinanzausgleich und den Ausgleichsmechanismen der sozialen Sicherungssysteme. Die gesetzlichen Regelungen gelten aber, was oft nicht erwähnt wird, für GesamtDeutschland, d.h. auch westliche Länder wie z.B. Bremen und das Saarland profitieren in hohem Maße davon.
Der politische Differenzierungsprozess Der anfängliche breite politische und mentale Graben zwischen West- und Ostdeutschen hat sich bis zum heutigen Tag gehalten und ist in den letzten Jahren sogar wieder angestiegen. Differenzen bestehen im Wahlverhalten, im politischen und ehrenamtlichen Engagement sowie in den Einstellungen zu Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Auf diesen Feldern ist in den vergangenen 29 Jahren nur mühsam etwas zusammengewachsen. Zwar veränderten sich seit 1990 Einstellungen in die eine oder andere Richtung und näherten sich manchmal sogar an, aber der Graben existiert weiterhin.
Die neuen Institutionen sind vielen Ostdeutschen fremd geblieben. Die Ernüchterung über die Realität führte nicht nur bei Ewiggestrigen zu einer Renaissance sozialistischen Gedankenguts, wonach die kapitalistische Bundesrepublik von sozialer Kälte beherrscht werde, auch Normalbürger sehen sich als vom Westen bzw. vom Kapitalismus unterdrückt und ausgebeutet. Auf die im Frühjahr 2019 von Allensbach gestellte Frage, ob die soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik realiter „sozial“ sei, antworteten 64% der Ostdeutschen mit nein (West: 43%). Die praktizierte Demokratie in Deutschland hält im Osten nur eine Minderheit von 42% für die beste Staatsform, im Westen sind es 77%.
Ostdeutsche sind empfänglicher für links- und rechtspopulistische Parteien, die nicht nur bei Landtagswahlen, sondern auch bei der Bundestagswahl deutlich höhere Ergebnisse als im Westen erzielen. Bei der letzten Wahl im Herbst 2017 erhielten populistische Parteien – Linkspartei und AfD – zusammen knapp 40% der Stimmen gegenüber 18% im Westen, in Thüringen waren es bei der Landtagswahl 2019 sogar über 50%.
Die AfD hat inzwischen die Linkspartei als stärkste regierungskritische und in großen Teilen antiwestliche Kraft abgelöst. Bei den Europawahlen in diesem Jahr holte sie in Sachsen und Brandenburg die meisten Stimmen; in Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt war sie zweitstärkste Kraft. Bei den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen schnitt sie ebenfalls mit Anteilen von über 20% gut ab. Die AfD vermochte es geschickt,
den von der Linkspartei in den Jahrzehnten zuvor gesäten Sozialneid und den weit verbreiteten Unmut gegenüber einer ungeregelten und unkontrollierten Zuwanderung für sich zu nutzen. Dazu beigetragen haben sicherlich auch westdeutsche Medien, die Ostdeutsche pauschal in die rechte Ecke schieben und zu Rassisten erklären, auch wenn diese nur fordern, dass kriminelle Asylbewerber möglichst rasch abgeschoben werden sollen. Das böse, zumeist von linken Politikern und Publizisten benutzte Wort „Dunkeldeutschland“ für die neuen Länder empört nicht nur Anhänger der AfD in Ostdeutschland. Ist ihnen bewusst, dass sie mit ihren pauschalisierenden und vorurteilsbehafteten Berichten und Kommentaren der AfD die ostdeutschen Wähler geradezu in die Arme treiben?
Ostdeutsche haben deutlich mehr Vorbehalte gegenüber Muslimen und insbesondere Roma als Westdeutsche. Angesichts der vergleichsweise hohen Kriminalitätsrate von Zugewanderten und der jahrzehntelang missglückten Integration bestimmter Einwanderergruppen in westdeutschen Städten befürchten viele Ostdeutsche Ähnliches für ihre Städte und Gemeinden. Diese Differenz in Fragen der Zu- und Einwanderung zwischen Ost und West kann nur überwunden werden, wenn offen und faktenbasiert darüber diskutiert und nach Lösungen gesucht wird. Vorschnelle Abqualifizierungen in die eine und die andere Richtung, wie sie derzeit üblich sind, helfen wenig weiter.
Gleichwohl äußert sich die Ablehnung des demokratischen Systems auch in einer vergleichsweise weiten Verbreitung extremistischen Denkens. Weiterhin ist das rechtsextreme Personenpotenzial im Osten deutlich größer und es gab fast fünfmal häufiger rechtsextreme Gewalttaten in den neuen Ländern als in den alten. Das schon in der Endphase der DDR vorhandene rechtsextreme Potenzial konnte trotz massiver finanzieller Unterstützung des so genannten Kampfes gegen Rechts nicht eingedämmt werden. Wohin die über 100 Millionen Euro jährlich fließen und warum sie zu keinen nennenswerten Ergebnissen in der Prävention führen, müsste dringend ergebnisoffen evaluiert werden.
Soziale und mentale Selbst- und Fremdwahrnehmungen Wechselseitige Vorurteile und Denken in Stereotypen existieren weiterhin, auch bei den Jüngeren. Westdeutsche halten Ostdeutsche für unzufrieden, misstrauisch, ängstlich und zurückhaltend, umgekehrt charakterisieren Ostdeutsche Westdeutsche als arrogant, materialistisch orientiert, selbstbewusst und oberflächlich. Dabei gibt es eine Ost-West-Schieflage, d.h. Westdeutsche billigen Ostdeutschen deutlich mehr positive Eigenschaften zu als Ostdeutsche Westdeutschen. Auch fallen Negativbewertungen durch Ostdeutsche intensiver aus. Noch stärker differiert das Selbstbild. Während sich die Westdeutschen mehr negative als positive Eigenschaften zuordnen, sehen sich die Ostdeutschen vor allem positiv.
Der Anteil derjenigen, die mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zwischen Ost- und Westdeutschen sieht, sank zwar im letzten Jahrzehnt, liegt aber immer
noch über dem Anteil derjenigen, die mehr Gemeinsamkeiten konstatieren. Zugenommen hat dagegen die Identifikation der neuen Bundesbürger mit Deutschland. Im Jahr 1992 fühlten sich 31% eher als Deutsche, 63 % eher als Ostdeutsche. Im Jahr 2006 gab erstmals eine absolute Mehrheit (54 %) der Befragten an, sich eher als Deutscher denn als Ostdeutscher (35%) zu betrachten. Bei der letzten Erhebung (2019) waren beide Lager in etwa gleich groß (Identifikation als Deutscher: 47%; Identifikation als Ostdeutscher: 44%). Für eine breite Mehrheit der Westdeutschen war und ist es selbstverständlich, sich als Deutscher einzuordnen.
Da sich in den letzten zehn Jahren die Wirtschaftslage verbesserte und die Arbeitslosigkeit auch in den neuen Ländern stark abnahm, müssen die Gründe für das ostdeutsche Unbehagen im vereinten Deutschland in anderen Bereichen liegen. Entscheidend dürfte immer noch sein, dass viele Ostdeutsche wissen, dass die grundlegende Umwälzung nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus von außen, d.h. vom Westen, vorgegeben und gestaltet wurde. Die massiven Geldtransfers, die aufgrund der gemeinsamen Vergangenheit, die zu Krieg und fürchterlichen Verbrechen mit anschließender vollständiger Niederlage und zu unterschiedlichen Besatzungsregimen führte, durchaus gerechtfertigt sind, werden von vielen Menschen in Ostdeutschland als Relativierung der eigenen Leistung und Legitimation für eine politische Bevormundung seitens des Westens interpretiert. Sie möchten nicht wie zu DDR-Zeiten gesagt bekommen, was sie für richtig oder falsch halten sollen. Die so genannte politische Korrektheit in westdeutschen Milieus stößt im Osten auf Widerspruch, der sich auch in der Wahl der AfD und antiwestlichen Ressentiments äußert.
Was nicht vergessen werden sollte: Ostdeutschland ist eine postsozialistische Gesellschaft. Die Nachwirkungen von jahrzehntelanger Sozialisation in einer sozialistischen Diktatur sind ebenso wie in den ehemaligen so genannten Bruderländern noch deutlich sichtbar. In vielen Dimensionen steht Ostdeutschland näher an den ost- und mitteleuropäischen Ländern als am Westen, obschon es den Ostdeutschen materiell deutlich besser geht als den Bevölkerungen in den anderen postsozialistischen Ländern.
Die Mehrzahl der Wähler von AfD und Linkspartei ist nach objektiven Kriterien zumindest materiell nicht abgehängt, wenngleich sie sich so begreift und fühlt. In der sozialen Selbsteinstufung charakterisieren sich deutlich mehr Menschen als Teil der Unter- und Arbeiterschicht als im Westen (37% gegenüber 25%). Dies ist nicht zuletzt ein Resultat der veränderten Sozialstruktur, nachdem Millionen Menschen vor und nach 1989/90 in den Westen gingen.
Unterschiede in der Mentalität und in dem Blick auf Vergangenheit und Gegenwart werden nicht so schnell verschwinden. Vielleicht ist es ja wie beim Rauchen: Angeblich dauert es nach dem Aufhören noch einmal ebenso lange, bis die Auswirkungen komplett verschwunden sind. Wir waren 45 Jahre geteilt
und es wird wahrscheinlich ebenfalls 45 Jahre dauern, bis wir nicht mehr gesondert über Ost-West-Unterschiede reden.
Fazit Trotz aller Probleme: Berücksichtigt man die historisch wohl singulären schwierigen Ausgangsbedingungen – die katastrophale ökonomische, infrastrukturelle und ökologische Schlussbilanz der DDR, ihr zum damaligen Zeitpunkt unerwarteter Zusammenbruch, nicht vorhandene historische Vorbilder für den Transformationsprozess, Fehlen einer etablierten Gegenelite im SEDStaat, unterschiedliche, ja gegensätzliche Sozialisationen und Lebenserfahrungen in Ost und West –, so hellt sich das Bild deutlich auf. Dann erscheint die deutsche Wiedervereinigung trotz aller Widrigkeiten und Probleme unter dem Strich als eine Erfolgsgeschichte, auf die wir stolz sein dürfen. Die weiterhin vorhandenen Unterschiede zwischen Ost und West sollten, sofern sie auf der politischen Ebene die Verfassungsordnung und damit Freiheit und Demokratie nicht in Frage stellen, als Bereicherung für eine lebendige Demokratie angesehen werden.
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